Das Fibromyalgie-Syndrom. Teil 1: Krankheitsbild, Häufigkeit und Diagnosestellung
Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist eine vor allem bei Frauen im mittleren Lebensalter vorkommende nicht-entzündliche chronische Schmerzkrankheit des Bewegungssystems. Die Diagnose des FMS erfolgt vor allem aus der Krankheitsgeschichte und dem Untersuchungsbefund. Zwingend erforderlich ist der Ausschluss anderer Beschwerdeursachen bzw. anderer Erkrankungen.
<h1>Allgemeines</h1>
Wörtliche Bedeutung
Fibro-( steht für Faser), my-(von myo steht für Muskel), -algie (steht für Schmerz);
Syndrom = Summe oder Kombination von bestimmten Symptomen;
(Symptom = einzelnes Phänomen oder Erscheinungs-Merkmal)
Andere (z.T. veraltete) Bezeichnungen für das Fibromyalgie-Syndrom (FMS):
Generalisierte Tendomyopathie, generalisierter nicht-entzündlicher Weichteilrheumatismus, Fibrositis-Syndrom
<h1>Merkmale der Erkrankung</h1>
Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS) ist eine vor allem bei Frauen im mittleren Lebensalter vorkommende nicht-entzündliche chronische Schmerzkrankheit des Bewegungssystems.
Über den ganzen Körper ausgebreitete diffuse Schmerzen der Muskeln und Sehnen sind typisch (‚Alles tut weh’). Im Labor und auch im Röntgen findet sich kein Befund, der die Beschwerden erklärt. Die Dauerschmerzen führen nicht selten zu körperlicher Schonung und Bewegungsmangel, die Kondition lässt nach. Die Muskulatur kennt den gesunden Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung nicht mehr.
Vielfältige ‚nervöse’ (funktionelle) Organ-Störungen sind typischerweise mit dem FMS vergesellschaftet - wie Reizmagen, Reizdarm, Reizblase, nervöses Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Kloßgefühl im Hals, Gefühlsstörungen in den Händen oder Füßen, daneben allgemeine vegetative Symptome wie z.B. kalte, zittrige, schwitzende Hände.
Schlafstörungen treten sehr oft auf und können dem Fibromyalgie-Syndrom auch schon jahrelang vorausgehen. Fortschreitende Erschöpfung und Konzentrationsschwäche sowie eine depressive Grundstimmung werden oft beklagt.
Stress-Situationen und ein oft beobachteter Perfektionismus der Betroffenen verstärken die Beschwerden (‚Ich muss es allen recht machen und alles besonders gut machen’ innerhalb der Familie, bei Kollegen und Vorgesetzten…).
Fortschreitende Erschöpfung, mangelndes Verständnis durch die soziale Umgebung und depressive Stimmung können zur Abkapselung von der Umwelt führen. Hierdurch wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der die Schmerzkrankheit unterhält.
Das FMS ist nach derzeitigem Wissensstand nicht eindeutig psychisch bedingt und auch nicht eindeutig körperlich bedingt. Es ist ein klassisches Beispiel einer ganzheitlichen Erkrankung, einer Erkrankung von Körper und Psyche und Seele.
<h1>Häufigkeit </h1>
Mit einer Häufigkeit von 2-3% in Mitteleuropa ist das FMS eine relativ häufige Erkrankung des Bewegungssystems - und die häufigste Erkrankung der Weichteile.
Es kommt bei Frauen wesentlich häufiger (etwa 8-9x häufiger) als bei Männern vor. Meist (aber durchaus nicht immer) beginnt die Erkrankung im 4.-5. Lebensjahrzehnt.
<h1>Primäres und sekundäres FMS</h1>
Über den Sinn einer Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem FMS wird teilweise noch diskutiert, das Konstrukt der Unterscheidung soll aber hier erklärt werden.
Ein primäres FMS beginnt meist schleichend, ohne dass irgendeine Vorerkrankung (des Bewegungsapparates) sozusagen als Wegbereiter vorhanden war.
Ein sekundäres FMS (also eine ‚Zweitkrankheit’) kann sich im Gefolge einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung einstellen (wie z.B. bei M. Bechterew oder bei rheumatoider Arthritis, Psoriasisarthritis, Sjögren-Syndrom, Lupus erythematodes disseminatus (SLE), Mischkollagenose…). Auch schwere Störungen der Produktion von Schilddrüsenhormon oder schwere Infekte (z.B. Borreliose) können am Beginn eines FMS stehen.
Beim sekundären FMS werden genauso wie beim primären FMS immer hauptsächlich Frauen betroffen.
<h1>Untertypen des FMS?</h1>
Wir müssen davon ausgehen, dass unser heutiges Wissen über das Wesen und die Ursachen des FMS nur die Spitze des Eisberges erfasst und noch vergleichsweise gering ist. Mit zunehmender Beforschung und Kenntnis der entsprechenden Zusammenhänge werden sich in 5-10 Jahren vielleicht für das ‚Konstrukt’ FMS teils andere neue Krankheitsbegriffe ergeben, vielleicht aber auch neue Unterscheidungen in bestimmte Untertypen.
Ein Weg dahin könnte die Aufteilung nach Stratz und Müller aus dem Jahr 2003 sein, welche die folgenden vier Untertypen definiert:
- FMS ohne Depression
- FMS mit schmerzreaktiver Depression
- FMS mit endogener Depression
- Somatoforme Schmerzstörung vom FMS-Typ
<h1>Diagnosestellung</h1>
Die Diagnose des FMS erfolgt immer aus der Anamnese (Schmerzbeschreibung und Bericht über andere typische Symptome) und der körperlichen Untersuchung – und erfordert den Ausschluss anderer Beschwerdeursachen oder Auslöser bzw. Begleiterkrankungen.
Diagnosekriterien
Die ACR-Kriterien von 1990
Das ACR (American College of Rheumatology, wissenschaftliche Fachgesellschaft der US-amerikanischen Rheumatologen) hat 1990 für die Fibromyalgie folgende diagnostische Kriterien vorgeschlagen:
- anhaltende Schmerzen am ganzen Körper (rechts und links, obere und untere Körperhälfte, Wirbelsäule und Stamm + Arme/Beine) über mindestens 3 Monate
- mindestens 11 von 18 definierten so genannten Tender points sind übermäßig schmerzhaft bei einem definierten Druck auf diese Punkte
- Begleitsymptome wie Erschöpfung, Morgensteifigkeit und Schwellungsgefühl in Gelenknähe, Schlafstörungen, Gefühlsstörungen bis hin zum Restless legs Sndrom, Reizdarm, Reizmagen, Reizblase, Kälteempfindlichkeit, Raynaud-Finger, Kopfschmerzen, Schwindel, vegetatives Schwitzen, nervöse Herzbeschwerden…
1.) und 2.) müssen erfüllt sein
3.) kann, muss aber nicht dazukommen, um die Diagnose sicherstellen zu können.
Die Kriterien von Müller und Lautenschläger von 1990:
- Spontane Schmerzen in der Muskulatur, im Verlauf von Sehnen oder an Sehnenansätzen, typisch nahe am Körperstamm, seit mindestens 3 Monaten bestehend und in mindestens 3 Regionen vorhanden (bezogen auf: rechts / links / oben / unten)
- Druckschmerz an mindestens der Hälfte der Tender points (bei definierter Druckstärke) mit sichtbarer Schmerzreaktion*
- Begleitsymptome vegetativ (mindestens 3 verschiedene) und funktionell (mindestens 3 verschiedene) sowie Schlafstörungen
- Seelische und psychische Auffälligkeiten
- Normale Befunde der gängigen Laboruntersuchungen
* Ergänzend wird inzwischen die Untersuchung der so genannten Kontrollpunkte gefordert, die für die Unterscheidung von der somatoformen Schmerzstörung ein wichtiger Beitrag ist.
<h1>Was sind Tender Points?</h1>
Ein Tender Point ist wörtlich genommen einfach ein ‚empfindlicher Punkt’. Gemeint ist eine auffällig erhöhte Druckempfindlichkeit an bestimmten Punkten (s. dazu Skizze ‚Die drei Grazien’ und Liste unten) bei Überprüfung mit einem definierten Druck des Untersucherfingers (genau genommen nur mit einem speziellen Gerät, dem Dolorimeter exakt einzuhalten).
Der definierte Druck soll 4 Kilopond pro cm2 betragen. Dieser Auflagedruck wird z.B. mit dem Daumen erreicht, wenn sich am Daumennagel des Untersuchers etwa ½ cm weiß färbt.
Wichtig ist, dass die Punkte wirklich als schmerzhaft empfunden werden und nicht nur als druckempfindlich.
Die Tender Points werden oft verwechselt mit den so genannten Triggerpunkten (Triggerpunkte sind im Muskel gelegene Punkte, von denen bei Druck ein ausstrahlender Schmerz ausgeht, verbunden mit einer Muskelzuckung).
Folgende typische Punkt-Lokalisationen werden beidseits untersucht (Abb.):
- Am Hinterkopf: Ansatz der Halswirbelsäulenmuskulatur
- An der Halswirbelsäule: seitlich bei den Querfortsätzen vom 5. bis zum 7. Wirbelkörper
- Am Schultergürtel: Oberrand des Trapeziusmuskels
- Am Schulterblatt: Ursprung des Supraspinatus-Muskels
- Am Brustkorb: Übergang vom knorpligen zum knöchernen Anteil der 2. Rippe
- Am Ellbogen: der ‚Tennisellbogen-Punkt’
- Am Gesäß: das obere äußere Viertel des großen Gesäßmuskels
- An der Hüfte: der seitliche Rollhügel an seinem hinteren Rand
- Am Knie: etwas oberhalb des mittleren Gelenkspaltes über einem kleinen Fettpolster
Teil 2: Ursachen und Auslöser des Fibromyalgie-Syndroms, Abgrenzung des FMS gegen andere Erkrankungen
am Samstag, dem 27. Januar 2007
Teil 3: Therapie des Fibromyalgie-Syndroms
am Sonntag, dem 28. Januar 2007
<h1>Literatur</h1>
ACR-Kriterien 1990:
Wolfe F, Smythe HA, Yunus MB, Bennett RM, Bombardier C, Goldenberg DL, et al.:
The American College of Rheumatology 1990 criteria for the classification of fibromyalgia: report of the multicenter criteria committee. Arthritis Rheum 1990;33:160-72.
Die diagnostischen Kriterien des ACR:
http://www.rheumatology.org/publications/classification/fibromyalgia/fibro.asp
Die Kriterien von Müller und Lautenschläger von 1990:
Müller W, Lautenschläger J (1990) Die generalisierte Tendomyopathie (GTM) – Teil1: Klinik, Verlauf und Differentialdiagnose.
Z Rheumatol 1990;49:11-21