Dramatischer Fachärztemangel: Auf Jamaika gibt es mehr Rheumatologen als in Thüringen

In Deutschland hat jeder zweite Patient mit rheumatoider Arthritis im Verlauf seiner Erkrankung niemals Kontakt zu einem spezialisierten Facharzt. Der Grund für diese erschreckende Tatsache ist der eklatante Mangel an Nachwuchs und die katastrophale Vergütungssituation im kassenärztlichen Bereich.

(Samstag, 19.10.2002, rheuma-online)
Kategorie: Archiv bis Mai 2005

In Deutschland hat jeder zweite Patient mit rheumatoider Arthritis im Verlauf seiner Erkrankung niemals Kontakt zu einem spezialisierten Facharzt. Der Grund für diese erschreckende Tatsache ist der eklatante Mangel an Nachwuchs und die katastrophale Vergütungssituation im kassenärztlichen Bereich. Bundesweit praktizieren nur noch 257 niedergelassene Rheumatologen in internistischen Schwerpunktpraxen; etwa ebenso viele sind in Fachkliniken angestellt. Besonders prekär ist die Lage in den neuen Bundesländern. „Auf Jamaika gibt es mehr Rheumatologen als in Thüringen“, erklärte Professor Gerd-Rüdiger Burmester auf einer Veranstaltung im Rahmen des Rheumakongresses in Berlin. In ganz Thüringen gibt es nach seinen Angaben nur noch zwei niedergelassene Kollegen, die beide kurz vor der Insolvenz stünden.

Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Bundeshauptstadt. Anstatt der eigentlich benötigten 35 Fachärzte praktizieren in Berlin zur Zeit noch 15 Spezialisten, von denen 12 demnächst in den Ruhestand gehen müssen. „Rheumatologen sind eine aussterbende Spezies“, lautete Burmesters Fazit. Als eine Ursache der dramatischen Entwicklung nennt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie die schlechte Leistungshonorierung. Im Berliner Osten und in Thüringen stünden lediglich 20 Euro pro Patient und Quartal zur Verfügung – „dafür nimmt ein Klempner nicht einmal den Telefonhörer ab.“

Viele Hausärzte wissen bereits nicht mehr, in welche rheumatologische Schwerpunkteinrichtung sie Betroffene überweisen sollen. Wartezeiten von drei bis sechs Monaten sind die Regel. Dabei ist die rheumatoide Arthritis mit Hilfe moderner Arzneimittel gerade in der frühen Krankheitsphase besonders erfolgreich behandelbar. Viele Patienten werden infolge der Unterversorgung wahrscheinlich zu spät oder gar nicht adäquat therapiert. Zur Verbesserung der Situation forderten die Rheumatologen eine angemessene Vergütung, mehr Lehrstühle zur Ausbildung von Nachwuchs, eine intensivere Zusammenarbeit mit den Hausärzten sowie einen Ausbau ambulanter Reha-Angebote.

Quelle: Ärzte Zeitung vom 2. Oktober 2002 (Nr. 177)

Gefunden in: www.rheumatoide-arthritis.de

Kommentar von rheuma-online:

Wer die rheumatologische Versorgungssituation in Deutschland mit aufmerksamen Augen verfolgt, wird zunehmend mit der Erkenntnis konfrontiert, das wir uns mit immer größeren Schritten auf eine 2-Welten-Rheumatologie zubewegen.

Die eine Welt ist die Welt, in der die Rheumapatienten leben, die von einem Rheumatologen betreut werden, der exzellent aus- und weitergebildet wurde, sich anschließend regelmäßig fortbildet, seinen Beruf nicht nur gewissenhaft, sondern vielleicht auch noch mit ärztlicher Leidenschaft ausübt und – in der Lage ist, alles was er selber kann und was ihm die moderne Rheumatologie an Behandlungsmöglichkeiten bietet, seinen Patienten auch zukommen zu lassen, da sie sich ihrerseits in der glücklichen Lage befinden, sich in gesunden Tagen für die Private Krankenversicherung entschieden zu haben.

In dieser Welt ist es selbstverständlich, dass sich der Rheumatologe die notwendige Zeit nimmt (und auch nehmen kann, ohne damit seine Praxis in den Ruin zu treiben), die für eine erstklassige Rheumatologie im Jahre 2002 nun einmal notwendig ist, und ebenso selbstverständlich ist es in dieser Welt, dass die therapeutischen Entscheidungen, die mit dem Patienten besprochen werden, sich von den medizinischen Erfordernissen herleiten und sich nicht primär an den Restriktionen gedeckelter Budgets orientieren müssen. Patienten, die diese Welt kennengelernt haben, wissen, dass hier bei der ersten Vorstellung eines Patienten die Diagnostik mit einer gründlichen Erhebung der Krankheitsgeschichte („Anamnese“) und einer ausführlichen körperlichen Untersuchung beginnt, sich in einer differenzierten Labordiagnostik und komplex angelegten weiteren Diagnostik, z.B. mit bildgebenden Verfahren wie Röntgen, Ultraschall oder Kernspin fortsetzt und dann in eine fundierte, qualifizierte Therapie einmündet. Dass diese Sorgfalt und der ausreichende Zeiteinsatz im weiteren Verlauf bei den anschließenden Kontrollen nicht aufhören, muss nicht erwähnt werden. Und ebenso klar ist, dass Patienten in dieser Welt nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft und Forschung behandelt werden. Und da die rheumatologische Wissenschaft und Forschung in den letzten Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht hat, erleben diese Patienten regelhaft therapeutische Erfolge, die noch vor Jahren als undenkbar erschienen.

Die andere Welt ist die Welt, in der gut ausgebildete, gut weitergebildete, engagierte, gewissenhafte Rheumatologen leben, die ihren Patienten alles bieten möchten, was die moderne Rheumatologie heute kann – und die persönlich und menschlich an dem Konflikt fast zerbrechen, dass sie dann in eine finanzielle Katastrophe ohnegleichen geraten.

Wenn der Rheumatologie für die komplette ärztliche Versorgung eines Kassenpatienten in Thüringen im Quartal insgesamt maximal 20 EUR bekommt, gibt es für ihn nur drei Möglichkeiten:

1. Er arbeitet so, wie er es gelernt hat und wie er es für ärztlich verantwortlich hält. In diesem Fall benötigt er in einer rheumatologischen Schwerpunktpraxis, in der sich naturgemäß Patienten mit diagnostisch schwierigen Fragestellungen und / oder therapeutisch komplizierten Krankheitsbildern oder Problemen befinden, im Schnitt, wenn man es im Durchschnitt schon sehr niedrig ansetzt, im Quartal, d.h. in drei Monaten, etwa 3-5 persönliche Patientenkontakte und einen durchschnittlichen Zeitaufwand in diesen 3 Monaten von insgesamt etwa 2 Stunden pro Patient (über die ganzen drei Monate). Dieser Zeitaufwand dürfte sogar extrem niedrig angesetzt sein und kann je nach Praxisstruktur und Patientenklientel das Doppelte oder sogar das Drei- bis Vierfache betragen. Setzt man einmal die sehr niedrige Zahl an, „schafft“ ein solcher Rheumatologe bei einem 10-Stunden-Tag und dem in Deutschland üblichen Wert für 250 Arbeitstage im Jahr im Quartal etwas mehr als 310 Patienten = „Krankenscheine“.

Bei einer Vergütung von 20 EUR pro Patient pro Quartal ergibt sich daraus ein monatlicher Umsatz aus kassenärztlicher Tätigkeit von etwas mehr als 2.080 EUR pro Monat. Davon sind zu bezahlen: Praxismiete, Strom, Wasser, Heizung, Personal, Abschreibung der angeschafften Geräte (anteilmäßig die Anschaffungskosten), Reparaturen, Gebühren für die Ärztekammer, Abgaben an die Kassenärztliche Vereinigung, Gebühren für staatlich vorgeschriebene Kontrollen (z.B. regelmäßige Überprüfung der technischen Geräte, arbeitsmedizinische Untersuchungen etc.), Berufsgenossenschaft, gesetzlich vorgeschriebene Umlagen usw. usf. .......

Da allein die Kosten für eine einzige Vollkraft beim nicht-ärztlichen Personal je nach Qualifikation und Alter in der Größenordnung von mindestens 1.500,00 bis 2.000 EUR im Monat liegen (das ist die Summe, die das Personal einschließlich Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung und Rentenversicherung etc. den Arbeitgeber kostet, nicht die Summe, die der Arbeitnehmer nach Abzug seiner Abgaben und der Steuer auf seinem Konto sieht; der zugehörige Betrag liegt dann bei etwa 900 – 1200 EUR), dürfte jedem auch mathematisch nicht sonderlich begabten Menschen auf Anhieb klar sein, dass der Rheumatologe so seine Praxis nicht führen kann.

2. Was kann er also tun? Er muß die Scheinzahl erhöhen. Beispielsweise auf 1.000 Patienten = Scheine pro Quartal. Das geht, indem er pro Tag länger arbeitet, z.B. nicht 10 Stunden, sondern 12 Stunden, und auch am Wochenende nicht ruht. Trotzdem muß er dann schon an der Qualität der Versorgung rühren, denn bei den oben genannten Durchschnittszeiten bekommt er 1.000 Patienten pro Quartal nicht hin. Immerhin hätte er mit 1.000 Patienten pro Quartal im Monat einen Praxisumsatz von mächtig viel klingenden 6.666,67 EUR im Monat. Davon sind die Praxiskosten abzuziehen, die man im günstigsten Fall im Schnitt bei mindestens 50-55% ansetzt: Bleiben nach Steuer etwa 2.000 EUR im Monat, von denen dann zunächst erst einmal die eigene soziale Absicherung (Krankenkasse, Erwerbsunfähigkeitsversicherung, Unfallversicherung, Altersvorsorge, sonstige private Versicherungen etc.) bezahlt werden muß. Ehe man sich versieht, sind da ganz schnell 1.000 – 1.500 EUR weg, vor allem auch deshalb, da ja der Arzt als Praxisinhaber bei den Beiträgen zur Krankenversicherung oder Rentenversicherung den vollen Beitrag bezahlen muß, wenn man so will, das Doppelte wie ein Angestellter, da er sich selber keinen „Arbeitgeberanteil“ zahlen kann. Leider sind die steuerlichen Freibeträge so niedrig, dass davon nur ein Bruchteil steuerlich geltend gemacht werden kann.

Es leuchtet ein, dass der Rest von 500 – höchstens 1.000 EUR für Miete und den übrigen Lebensunterhalt ziemlich knapp ist. Dass es sich dabei um ein Einkommen aus ärztlicher Tätigkeit handelt, glaubt ohnehin keiner.

3. Was bleibt übrig? Mehr Einkünfte aus kassenärztlicher Tätigkeit gibt es nur, wenn er noch mehr Patienten behandelt. Da der Tag nur 24 Stunden hat, geht das nur, wenn die Zeit für den einzelnen Patienten noch weniger wird. Beliebig ist aber auch die „Flucht in die Masse“ nicht möglich, denn glücklicherweise wurden von den klugen Wächtern des kassenärztlichen Systems auch dafür Obergrenzen erfunden. Die Folge: Extrem viel Arbeit, extrem hohe psychische Belastung, dafür aber ein Einkommen am Rande des Existenzminimums. Wenn der Arzt auch nur ein paar Tage krank ist und die Praxiskosten weiterlaufen, ohne dass er in dieser Zeit Einkünfte aus seiner eigenen Tätigkeit erzielen kann, kann das labile Gleichgewicht schon kippen und der Konkurs da sein.

Es braucht nicht viel Phantasie, dass das Arbeiten in so einer Situation keine Freude macht, vor allem, wenn man andere Bedingungen kennt und weiss, welche Möglichkeiten bestünden, wenn der Rheumatologe seiner Qualifikation und seiner Verantwortung gemäß vergütet würde.

Und es braucht ebenfalls keine Phantasie, dass es in einer solchen rheumatologischen Welt kaum gelingen kann, die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen, die uns heute zur Verfügung stehen. Ganz unabhängig davon, dass davor ja noch die zweite Riesenhürde in Form der begrenzten Arzneimittelbudgets steht.

Wenn man im Forum von rheuma-online die Erfahrungen liest, die Patienten mit der Rheumatologie und mit einzelnen Rheumatologen gemacht haben, ist man manchmal sehr betroffen, manchmal verspürt man sogar so etwas wie einen Anflug von Zorn, und oft wird man sehr traurig. Denn wahrscheinlich wollen die wenigsten Rheumatologen so mit ihren Patienten umgehen, haben aber in ihrer Welt keine andere Möglichkeit gefunden, sich einem System zu entziehen, dass sie strukturell dazu zwingt, weit unter ihren Möglichkeiten zu arbeiten. Und die Rheumatologie als Fachdisziplin hat diese tendenziell schon fast zynisch wirkende Situation allemal nicht verdient, ebenso wenig wie ihre Patienten.

Priv. Doz. Dr. med. H.E. Langer

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