Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) bedeuten für die Betroffenen neben dem chronischen Durchfall oft andauernde Schmerzen, Blutungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und eine Vielzahl an Begleiterkrankungen der Gelenke, Haut und Augen. Niemand spricht gerne über Krankheiten wie diese, denn sie betreffen den Intimbereich. Man verschweigt die eigene Erkrankung oft aus Scham. In Österreich leiden derzeit bis zu 80.000 Menschen an chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Besonders alarmierend ist die Tatsache, dass die Patienten mit CED immer jünger werden. Viele Neuerkrankte sind Kinder oder Jugendliche. Der Leidensweg der Betroffenen bis zur richtigen Diagnose ist lang. Gezielte Aktionen, wie der Toilet Race am Wiener Michaelerplatz, sollen die Bevölkerung auf chronisch entzündliche Darmerkrankungen aufmerksam machen und darüber aufklären. Denn frühe Diagnose und Therapie sind entscheidend bei diesen chronisch fortschreitenden Erkrankungen.
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) sind bislang ein Tabuthema in der österreichischen Gesellschaft. Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung haben von einer der Krankheiten – Morbus Crohn und Colitis ulcerosa – schon einmal gehört. Kaum jemand weiß, welchen Einschnitt die Diagnose CED in das Leben von Betroffenen bedeutet. Der Präsident der Österreichischen Morbus Crohn Colitis ulcerosa Vereinigung ÖMCCV, Rudolf Breitenberger, selbst CED-Patient, stellt eines der grundlegendsten Probleme für Menschen, die an CED leiden, anschaulich dar: „Sie kennen das Kinderspiel Reise nach Jerusalem? Alle laufen im Kreis um die Sessel und wenn die Musik plötzlich aufhört, müssen alle schnell Platz nehmen. Das Lustige daran ist, dass es immer einen Sessel zu wenig gibt. Derjenige, der nicht schnell genug ist, hat Pech gehabt. Stellen Sie sich dieses Spiel jetzt statt der Sessel mit Toiletten vor und alle Teilnehmer müssen dringend mal. Leider gibt’s immer eine Toilette zu wenig. Derjenige, der nicht schnell genug ist, hat Pech gehabt. Stellen Sie sich vor, Sie sind derjenige. Finden Sie das lustig? Nein? Ungefähr so fühlt sich der Alltag von Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen tagtäglich an. Die bange Frage, ob man es noch rechtzeitig bis zur nächsten Toilette schafft, wird zur lebensbestimmenden Maxime. Jeder Weg, der täglich außer Haus führt, wird danach ausgerichtet – ob Einkauf, Amtsweg oder Freizeit.“
Tabuisierung führt zu sozialer Isolation
Ein weiterer Aspekt ist die starke psychische Belastung durch die Krankheit: Aufgrund der Tabuisierung des Themas sind weder Bewusstsein noch Verständnis in der Bevölkerung für chronisch entzündliche Darmerkrankungen bzw. für daran erkrankte Menschen vorhanden. Betroffene ziehen sich oft sozial zurück, weil die ständige Angst, genau dann keine Toilette zu haben, wenn man eine braucht, auch ganz einfache Dinge, wie auf ein Bier zu gehen, für sie unmöglich macht. Viele hindert die Erkrankung daran, eine intime Beziehung einzugehen. Die Unwissenheit über CED ist für viele Betroffene eine Belastung im Umgang mit Kollegen im Berufsalltag. Menschen mit CED sind oft Mobbing am Arbeitsplatz ausgesetzt, weil sie nicht den Mut finden, mit Vorgesetzten und Kollegen über ihre Erkrankung zu sprechen oder zu erklären, warum sie 20 Mal am Tag auf die Toilette müssen und eine Besprechung plötzlich verlassen. Die Folge: Fast die Hälfte aller Betroffenen im erwerbsfähigen Alter muss wegen ihrer Erkrankung den Job aufgeben oder hat ihren Arbeitsplatz deshalb verloren. Dr. Martin Gleitsmann, Leiter der Abteilung Sozialpolitik und Gesundheit der Wirtschaftskammer Österreich, betont die Wichtigkeit, Menschen mit CED im Erwerbsleben zu halten: „Für die Betroffenen ist es enorm wichtig, durch ihre Arbeit in die Gesellschaft eingebunden zu bleiben, um nicht in soziale Isolation zu geraten. Morbus Crohn und Colitis ulcerosa treten meist im Alter zwischen 20 und 30 Jahren zum ersten Mal auf. Ein Verlust von solchen Arbeitskräften, die ihr ganzes Erwerbsleben eigentlich noch vor sich haben, ist weder für die Betroffenen noch für die Arbeitgeber unseres Landes wünschenswert. Hier arbeitet die WKÖ an Wiedereingliederungshilfen für Arbeitnehmer nach einem Krankheitsschub und an der Möglichkeit von Teilarbeitsfähigkeit bei chronischen Krankheiten.“
Rasche Diagnose ist Voraussetzung für effektive Therapie
Die Probleme, mit denen Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen konfrontiert sind, beginnen aber bereits mit der Diagnose. In Österreich vergehen im Schnitt drei bis fünf Jahre, bis die häufigsten Vertreter dieser Krankheitsgruppe – Morbus Crohn und Colitis ulcerosa – diagnostiziert werden. Ursachen für diese Verzögerungen bei der Diagnosestellung sind oft mangelndes Wissen oder Verharmlosung der Symptomatik. Das führt zu unzureichender medizinischer Versorgung der Patienten und zur Anwendung nebenwirkungsreicher und zugleich ineffizienter Medikamente – und das oft über Jahre. Doch gerade eine rasche Diagnose ist die Voraussetzung, dass eine Therapie aussichtsreich und langfristig erfolgreich ist. A.o. Univ.-Prof. Dr. Walter Reinisch, Facharzt für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Wien und Leiter der Arbeitsgruppe CED der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie (ÖGGH) dazu: „Eines unserer Ziele ist, die Dauer vom Erstsymptom bis zur Diagnosestellung von CED deutlich zu verkürzen, damit Patienten frühzeitig von einer effektiven Therapie profitieren. Je früher die richtige Diagnose gestellt und mit einer entsprechenden Therapie begonnen wird, desto eher ist es möglich, den Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen und unangenehme Begleiterscheinungen sowie Komplikationen wie Fisteln oder Darmverlust zu verhindern.“ Für CED gibt es noch keine Heilung, aber aussichtsreiche Therapieoptionen. Die derzeit innovativste Medikamentenklasse zur Behandlung von CED sind Biologika, die den Vorteil haben, das Fortschreiten der Krankheit zu stoppen oder zumindest hintanhalten zu können. Patienten mit Risiko für einen schwergradigen Verlauf brauchen diese besonders.
Zu wenige Spezialisten
Um Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen optimal versorgen zu können, braucht man eigene Zentren, in denen Spezialisten verschiedener Fachrichtungen eng zusammenarbeiten. In Österreich existieren aber viel zu wenige spezialisierte Einrichtungen für die aktuell rund 80.000 CED-Patienten. Aufgrund der mangelnden Infrastruktur sind nur 15 bis 20% der Betroffenen in spezialisierter Behandlung. Der größte Teil der Patienten wird im niedergelassenen Bereich betreut. Neben der Infrastruktur fehlt es auch an Spezialisten, Ausbildungsangeboten sowie an medizinischem Nachwuchs. Eine flächendeckende optimale Versorgung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen, die erhebliches Fachwissen voraussetzt, ist in Österreich damit nicht gewährleistet.
Neue Initiative darm+
Um in Zukunft eine adäquate CED-Betreuung der Bevölkerung in ganz Österreich zu sichern, haben die Österreichische Morbus Crohn-Colitis ulcerosa Vereinigung ÖMCCV gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie ÖGGH die Initiative „darm+ CED Initiative Österreich“ gegründet. Ziele der Initiative sind Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit zu betreiben, um der Tabuisierung von CED entgegenzuwirken, Initiativen zu setzen, um die Versorgung gemeinsam mit den Partnern im Gesundheitswesen auf ein Optimum zu bringen, strukturelle Maßnahmen zu etablieren, um die Patienten möglichst wohnortnahe rasch zu diagnostizieren und zu therapieren sowie Ursachenforschung zu betreiben und die dafür notwendigen finanziellen Mittel zu lukrieren. Dabei gilt es insbesondere den Spitalsbereich und niedergelassene Ärzte in die Patientenbetreuung einzubeziehen. Dr. Günther Wawrowsky, Facharzt für Innere Medizin, Obmann der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer zur neuen Initiative darm+: „Jede gemeinsame Anstrengung, die zu einer Verbesserung der derzeitigen mangelhaften Versorgungslage bei CED führt, ist hoch willkommen. Als Ärztekammer sind wir in intensiven Gesprächen mit dem Ministerium, um eine sechsjährige Ausbildung zum Allgemeinmediziner zu entwickeln, wie sie europaweit üblich ist. Das wären nachhaltige und zielführende Schritte, durch die man das Problem der langwierigen Diagnose bei CED auf Dauer wahrscheinlich gut in den Griff bekommen würde.“
Auf fahrbaren Toiletten das Tabu brechen
Eine konkrete Maßnahme zur Aufklärung der Bevölkerung über chronisch entzündliche Darmerkrankungen ist das erste Wiener Charity Toilet Race, das am heutigen Tag am Michaelerplatz stattfindet. Prominente und Betroffene nehmen an einem Charity Rennen auf fahrbaren Toiletten teil, um abseits der sozialen, wissenschaftlichen und politischen Diskussion auf das Thema aufmerksam zu machen. MR Dr. Magdalena Arrouas, Leiterin der Abteilung III/2 Nicht übertragbare Erkrankungen, psychische Gesundheit und Altersmedizin vom Bundesministerium für Gesundheit dazu: „Das Bundesministerium für Gesundheit begrüßt jede Initiative, die geeignet ist, zur Aufklärung über das Thema chronisch entzündliche Darmerkrankungen in der Bevölkerung beizutragen und den Leidensdruck der Betroffenen dadurch zu verringern. Hier wird es notwendig sein, in konzertierten Aktionen dieses Thema über eine gewisse Dauer zu kommunizieren.“